Britta Lumer: Refluence
2, 3, 5, 9
Alle Rechte: Britta Lumer
1, 4, 6-8, 10, 12
Foto: Michael Lüder / BKV Potsdam
Lumers Werk, aus dem der Brandenburgische Kunstverein eine vor allem auf die letzten sechs Jahre konzentrierte Zusammenstellung zeigt, ist eine entschiedene Distanzierung vom Vertrauen auf die Eindeutigkeit der Bilder. Ausgehend von einer langjährigen Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie versetzt sie Zeichnungen mit Tusche und Kohle, aber auch mit Bleichmittel und anderen unorthodoxen Reagenzien in Zustände fließender Offenheit. So entstanden zuletzt Serien großformatiger Tuschemalereien, in denen sich das Innere und Äußere der menschlichen Figur zu überlagern scheint. Alternativen zum manifest gewordenen Bild sind dabei nicht nur vorstellbar, sie sind im Werk selbst bereits angelegt.
Verlässliche Perspektiven lösen sich dabei schon im Gestaltungsprozess auf. Aus der Bearbeitung des Papiers und der Pigmente mit chemischen und physikalischen Techniken, durch das Bleichen der Leinwände, den über die Papierebene geblasenen und wieder abgesaugten Kohlestaub entstehen skeletthafte Elemente, Fließ- und Wischspuren und rorschachhafte Überlagerungen, aus denen sich der Betrachter seine Wirklichkeit indizienhaft zusammensetzen muss. Zuweilen könnte man meinen, das zeichnerische Verfahren dringe dabei wie eine Röntgentechnik hinter unsere Vorstellung von Körpern und Physiognomien vor. Jede Linienführung, jeder Schatten nass in nass zusammenfließender Farbverläufe scheint nur dazu gemacht, gedreht, gewendet und immer wieder neu beleuchtet zu werden. Wo fotografische Bilder im Moment des Auslösens eindeutige Urteile über die Wirklichkeit (und den Porträtierten) fällen, nimmt Lumer stattdessen zeichnerisch die Festigkeit der Entscheidungen zurück. Einzelne Bilder gibt es hier eigentlich gar nicht mehr. Sie sind nur die manifest gewordenen Punkte auf einer Zeitachse stets veränderlicher Prozessverläufe. Würde Farbe nicht trocknen und Wasser verdunsten, könnte man sich vorstellen, dass das zeichnerische Verfahren neu begönne oder rückwärts verliefe. Das herbeigeführte Gleichgewicht ist so irritierend fragil, dass die Selbstverständlichkeit plakativer Medienbilder plötzlich wie eine Dreistigkeit erscheint.
So wird mit jedem weiteren Bild deutlicher, welche Zumutungen Fotografien an uns richten, die für den Sekundenbruchteil eines Aufnahmemoments mit aller Selbstverständlichkeit faktische Beweiskraft in Anspruch nehmen. Es ist Lumers eigene biographische Erfahrung, in ihrer Kindheit hundertfach für kommerziell verwertete Porträtfotografien Modell gesessen zu haben. Ihr Werk ließe sich so auch als Korrektur einer Entfremdung deuten, der wir unterworfen sind, wenn wir uns in der Widerspiegelung von außen wiedererkennen, ohne uns mit den konstruierten Posen oder dem willkürlichen Entscheidungsmoment der Aufnahme identifizieren zu können.
In Lumers Werk werden alle Momente und Posen unterminiert. Was im technisch reproduzierten Bild als Augenblick und Ausschnitt isoliert ist, erscheint plötzlich fortsetzbar. Könnte man den abgebildeten Körper in der Vorstellung nicht auch ein paar Grad um seine Achse drehen? Und stellt das janusköpfige Profil da drüben nicht einfach zwei Aggregatzustände der selben Physiognomie zur Diskussion?
Wenn die Künstlerin ihre Ausstellung „Refluence“ (wörtlich „Rückfluss“) nennt, bringt sie die Methode mit einem Kunstwort auf den Punkt. Der Titel beschreibt eine Wiederverflüssigung. Hier wird ein Einfluss aufgehoben, die Erstarrung aufgelöst und die Verfestigung zersetzt.
Britta Lumers Zeichnungen verselbständigen sich zu Gegenbildern. Sie sind flüchtig, aber autonom. Unabgeschlossen, aber klar. Sie unterwerfen sich keinem festen Begriff und öffnen sich über das Bild hinausreichenden Zusammenhängen. Was Sie sehen, sind Gegenbilder zu allen Bildinszenierungen, Gegenmittel gegen falsche Eindeutigkeit. Ein Blick in die sozialen Netzwerke oder Nachrichtenmedien zeigt, dass wir mehr solcher „Refluenzen“ bräuchten.